Eine aktuelle Analyse des Massachusetts Institute of Technology deckt auf, wie dramatisch Unternehmen und Politik die Automatisierungsgefahr unterschätzen.
Bruttoinlandsprodukt, Erwerbslosenquote, Beschäftigungszahlen – die üblichen Wirtschaftsindikatoren erfassen weniger als fünf Prozent der tatsächlichen KI-Exponierung am Arbeitsmarkt. Zu diesem Ergebnis kommt „Project Iceberg" des Massachusetts Institute of Technology in Kooperation mit dem Oak Ridge National Laboratory. Die Forscher haben 151 Millionen Arbeitskräfte in den USA simuliert und deren Tätigkeiten mit den Fähigkeiten von über 13.000 existierenden KI-Systemen abgeglichen. Das Ergebnis: Rund 1,2 Billionen Dollar Lohnsumme, 11,7 Prozent des Gesamtvolumens, entfallen auf Aufgaben, die Künstliche Intelligenz technisch bereits heute bewältigen kann. Sichtbar in konventionellen Analysen sind davon lediglich 211 Milliarden Dollar oder 2,2 Prozent. Die Diskrepanz erklärt sich durch den Fokus bisheriger Messungen: Sie registrieren primär, wo KI bereits implementiert wurde. Das eigentliche Potenzial bleibt verborgen, weil es sich auf 923 Berufskategorien und 32.000 einzelne Fertigkeiten verteilt.
Anders als in der öffentlichen Debatte dominieren nicht Programmierer die Risikogruppe. Besonders exponiert sind Finanz- und Versicherungsdienstleister, Gesundheitsverwaltungen, Behörden und Unternehmensberatungen – überall dort, wo kognitive Routinearbeit den Kern bildet. Der neu entwickelte „Iceberg Index" quantifiziert für jeden Beruf, welcher Anteil der Aufgaben bereits durch vorhandene KI-Anwendungen abdeckbar ist. Die Analyse zeigt: KI-Systeme beherrschen 16 Prozent aller klassifizierten Skills, konzentriert auf administrative und analytische Tätigkeiten. Kritisch wird es in Regionen ohne nennenswerte Tech-Industrie. Sie wiegen sich in falscher Sicherheit, während ihre dominanten Sektoren längst von kognitiver Automatisierung durchdrungen werden.
Drei US-Bundesstaaten nutzen das Iceberg-Dashboard zur Workforce-Planung und entwickeln gezielt Umschulungsprogramme für exponierte Berufsgruppen. Für jeden Landkreis wird ermittelt, welche Fertigkeiten dort häufig sind und wie hoch deren Automatisierungswahrscheinlichkeit liegt. Die politischen Reaktionen fallen gespalten aus. US-Senator Mark Warner prognostiziert ohne Gegenmaßnahmen 25 Prozent Arbeitslosigkeit unter College-Absolventen. Eine Studie der Yale University vom Oktober 2025 widerspricht: Seit dem ChatGPT-Launch seien keine breitflächigen Jobverluste messbar. Die Autoren betonen: Es handelt sich um technische Machbarkeit, nicht um unmittelbare Verlustprognose. Wann und ob das Potenzial realisiert wird, hängt von Unternehmensstrategien, Regulierung und gesellschaftlicher Akzeptanz ab.
Deutschland weist einen höheren Industrieanteil auf als die USA. Dennoch beschäftigen Verwaltungen, Banken, Versicherungen und Beratungshäuser Millionen in genau jenen Tätigkeitsfeldern, die der Massachusetts Institute of Technology-Report als hochexponiert klassifiziert. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung fordert seit Jahren Frühwarnsysteme für KI-bedingten Strukturwandel. Achim Wambach vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung Leibniz-Zentrum mahnt: Die Bundesregierung müsse dringend Technologiekompetenz ausbauen. Entscheidend: Die 11,7 Prozent umfassen ausschließlich kognitive Automatisierung durch Software. McKinsey schätzt das langfristige Gesamtpotenzial auf 40 Prozent der Lohnsumme: ein Wert, der auch für Europa plausibel erscheint.





